14. Eine Evastochter (1839)

Szenen aus dem Privatleben

Unbekannt — Honoré de Balzac,
A Daughter of Eve. Philadelphia:
George Barrie & Son, 1897
Der Roman beginnt in der Wohnung von Ferdinand du Tillet, einem der reichsten und skrupellosesten Bankiers in Paris. Er hat 1831 Marie-Eugénie de Grandville geheiratet, die jüngste Tochter des Grafen von Granville. Graf von Granville ist einer der bekanntesten Namen der Französischen Justiz, der seit der Julirevolution 1830 Pair von Frankreich ist. Marie-Virginie tröstet ihre ältere Schwester Marie-Angélique de Vandenesse, Frau des Grafen Felix de Vandenesse, die dringend eine größere Summe an Geld von ihr erbittet.  Beide Schwestern stehen sich sehr nahe und tauschen viele Vertraulichkeiten aus. Die Töchter haben von ihrer bigotten Mutter Angélique de Grandville geb. Bontems eine prüde und heuchlerische Erziehung erfahren (Die doppelte Familie 1830). Mit ihren Ehemännern als Aufsteiger der Hochfinanz auf der einen und Mitglieder des alten Hochadels auf der anderen Seite verbinden beide jetzt die zwei verfeindeten Lager. Trost in ihrer gemeinsamen Jugendzeit spendete ihre Leidenschaft für die Musik und die Verehrung für ihren alten Klavierlehrer und ehemaligen Kantor, dem Deutschen Wilhelm Schmucke. Marie-Virginie kann ihr diese Bitte nach finanzieller Unterstützung aber nicht erfüllen, weil sie selber von ihrem zynischen Mann kein eigenes Geld erhält und zudem eng kontrolliert wird. Die beiden Schwestern wurden früh verheiratet, sind aber trotz der sozialen Erfolge ihrer Ehegatten nicht glücklich. Die ältere der beiden Schwestern scheint zwar das glücklichere Los in ihrer Ehe gezogen zu haben - Felix de Vandenesse ist liberaler und menschlicher - sie weiß aber nichts mit ihrer Zeit anzufangen.

Der Grund für die Geldbedürftigkeit von Marie-Angélique wird von Balzac im nachfolgenden nachgeliefert. Als wohl behütete Tochter sowohl im Elternhaus als auch als adlige Ehefrau verfällt diese dem Dichter Raoul Nathan, der wenig Talent, dafür aber umso mehr Selbstliebe aufweist und als bunter Vogel in der Gesellschaft Aufsehen erregt. Marie-Angélique, deren eintöniges Leben bisher paradiesisch in ruhigen Bahnen verlaufen ist, kostet als Evastochter im folgenden vom verbotenen Apfel der Erkenntnis. Beide verbindet die Suche nach einem Gegenpol ihres bisher einseitigen Lebens. Gefördert wird die Liaison durch drei ehemalige Geliebte des Grafen Felix de Vandenesse (Lady Dudley, Natalie de Manerville sowie Émile de Fontaine, Ehefrau von Charles de Vandenesse), die alle aus unterschiedlichen Gründen noch immer eifersüchtig auf ihn sind. Nathan ist mit der schönen und attraktiven Schauspielerin Sophie Grignouldt alias Florine liiert.  Um seine politische Karriere voranzubringen - Nathan will Minister werden - gründet er zusammen mit Ferdinand du Tillet eine politische Zeitschrift. Hierfür benötigt der ehrgeizige Nathan aber mehr finanzielle Mittel, als ihm seine Geliebte bieten kann. Bei dieser Unternehmung wird er von seinen Partner du Tillet, der selbst politische Ambitionen hat,   reingelegt. Auch seine vermeintlichen Freunde lassen ihn ins offene Messer laufen. Als Wechsel fällig werden und die Zeitung nicht den notwendigen Profit abwirft, steht er kurz vor dem Nichts und  der Anklage. Seine Geliebte Florine und Marie-Angélique ahnen nichts von dieser fatalen Entwicklung. Aus Verzweiflung begeht Nathan einen Selbstmordversuch, den Marie-Angélique in letzter Minute vereitelt. Darauf gesteht Nathan ihr seine ganze Misere.

Hier knüpft die Geschichte zeitlich wieder an den Beginn an. Mit Hilfe ihrer Schwester lässt Marie-Angélique Wechsel zugunsten von Nathan auf den verehrten Wilhelm Schmucke unterschreiben und löst damit Nathan aus. Allerdings schickt sie sich damit selbst scheinbar sicher ins Verderben. Erst die Beichte von Marie-Eugénie an ihren Schwager Graf Felix de Vandenesse und dessen Verständnis, Hilfsbereitschaft sowie Plan bringen die benötigte Hilfe für seine Frau.

Hier nimmt der Roman den Charakter einer Bühnenposse an, in der Felix und seine ernüchterte Frau Marie-Angélique bei einem Maskenball die Eifersucht von Nathan’s Geliebten Florine nutzen, um das Doppelleben des Dichters öffentlich zu machen und gleichzeitig die Integrität der Gräfin zu schützen.

In diesem kurzen Roman, der als Fortführung des Schicksals der Töchter von Graf de Granville und Fortsetzung von „Eine doppelte Familie“ aus dem Jahre 1830 gelesen werden kann, treten viele Figuren der Menschlichen Komödie auf. Gleichzeitig werden viele in späteren Romanen der Menschlichen Komödie behandelte Themen bereits hier vorgestellt (z.B. Journalismus, Schauspielerei, Finanzen). Insbesondere die Personenbeschreibungen von Raoul Nathan und Florine lassen keine Wünsche offen und bekunden Balzacs Meisterschaft nicht nur in dieser Hinsicht. Der Abschluss als Bühnenposse zeugt von der Virtuosität, mit der Balzac sein Metier beherrschte. Kurz gesagt: Ein prägnantes und empfehlenswertes Werk, um Themen, Pole, Stil und detaillierte Feinzeichnung der Charaktere Balzacs kennenzulernen.

(128 Seiten)

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