9. Eine Doppelte Familie (1830)

Szenen aus dem Privatleben

illegible - Honoré de Balzac,
A Double Family. Philadelphia:
George Barrie & Son, 1897
Mittels bekannt detaillierter Beschreibung der Örtlichkeit und mit Akribie führt Balzac die junge und hübsche Caroline Crochard in die Geschichte ein. Im Jahre 1815 lebt Caroline mit ihrer Mutter in ärmlichen Verhältnissen in einem alten Stadtteil von Paris. Beide verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit Stick-arbeiten. Vom Fenster ihrer schlichten Wohnung beobachten sie die Passanten, die täglich auf ihrem Weg zur bzw. von der Arbeit an dem Haus vorbeigehen. Einer dieser regelmäßigen Passanten ist der adelige Anwalt Graf de Granville. Der Graf ist seit einigen Jahren unglücklich verheiratet mit der scheinheilig frommen Angélique Bontems. Dieser Teil der Geschichte, der Ende 1805 einsetzt und bis ins Jahr 1822 reicht, wird von Balzac erst später (teils retrospektiv) erzählt. Der Anwalt verliebt sich in Caroline und macht ihr den Hof. Die Geschichte wird von Balzac Jahre später fortgesetzt.

Caroline lebt mit Kammerzofe und zwei Kindern in einem luxuriösen Appartement in Paris. Der Graf hat Karriere als Generalstaatsanwalt gemacht und ist ein liebender Vater. Er ist aber Caroline nur als Roger de Granville bekannt. Der Graf führt offensichtlich ein Doppelleben und kann aufgrund seiner Verheiratung die Beziehung nicht anerkennen und öffentlich machen. Er sorgt liebevoll für seine „zweite“ Familie und sichert Caroline ein eigenes Auskommen und Vermögen. Caroline weiß nichts von seiner legitimen Ehe und arrangiert sich mit der Situation. Dieser Teil schließt mit der Auseinander-setzung mit seiner Frau Angélique, in der zwei konträre  Lebensauffassungen zu Glück und Liebe aufeinander prallen.

Die Geschichte endet im Jahre 1833, als der alternder und desillusionierte Graf in der Nacht am Haus von Caroline auf seinen Arzt Horace Bianchon trifft. Der Arzt erzählt ihm und dem Leser den tragischen Rest der Geschichte. Offensichtlich hat Caroline den Grafen nach 1822 zugunsten eines hübschen Jünglings verlassen, in den sie sich unsterblich verliebt hat. Solvet ist ein Spieler und Hasardeur, die die Geliebte rücksichtslos ruiniert. Caroline ist zwar unglücklich, fühlt sich aber dennoch zu ihm hingezogen. Der Graf verflucht seine ehemalige Geliebte und sein Leben, setzt sich aber finanziell für seinen illegitimen Sohn Charles Crochard ein, der einen Diebstahl begangen hat und vor Gericht steht. 

Balzac rechnet in dieser Erzählung, die 1830 in einer ersten Version erschienen ist, mit der Bigotterie seiner Zeit und seinen Auswirkungen ab. Insbesondere die Aussprache zwischen dem Graf und seiner bigotten Frau ist lesenswert und lässt keinen Zweifel an der Vorliebe Balzacs. Kälte, Engstirnigkeit  und Intoleranz als Zeichen einer religiösen Scheinheiligkeit finden bei Balzac ihre Entsprechung in der Beschreibung der Wohnungseinrichtung der Eheleute Granville, die „Trockenheit…, kalte Feierlichkeit …, … nicht die mindeste Anmut, … Selbstgerechtigkeit und Kleinlichkeit“ ausstrahlte. Diese Beschreibung kontrastiert mit der Wärme und dem Entzücken, die Balzac den Örtlichkeiten gibt, die Caroline einrichtet und bewohnt. Ich bin immer wieder begeistert von der dichten und nuancenreichen Zeichnung der Charaktere und Örtlichkeiten und wie es Balzac auf so wenigen Seiten trotzdem noch gelingt, eine so komplexe Geschichte zu erzählen.     

„Frömmigkeit führt irgendwie zu ermüdender Demut, die den Hochmut nicht ausschließt.“

(75 Seiten)

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