6. Ein Lebensbeginn (1842)

Szenen aus dem Privatleben

Von Oreste Cortazzo -
Honoré de 
Balzac, A Start in Life
Der Großteil der Handlung mit ihrem Schwerpunkt spielt in der alten, klapprigen Postkutsche des Kutschen-Unternehmers Pierrotin auf dem Weg von Paris und Val-d’Oise. Auf einer dieser Reisen im Jahre 1822 geht der reiche, hochdekorierte Aristokrat und Senator Graf Hugret de Sérizy inkognito Gerüchten nach, nach denen der Verwalter seiner Guts in Presles, Monsieur Moreau, keine ehrlichen Absichten beim Erwerb des benachbarten Grundstücks Les Moulineaux verfolgt, das er selbst von dem Landbesitzer Margueron erwerben will. Unter den Mitreisenden befindet sich der 18-jährige Oscar (Husson), ein junger Taugenichts, der von seiner Mutter Mm. Clapart seinem Patenonkel Moreau anempfohlen wird, um eine Anstellung zu erhalten. Gleichzeitig reisen weitere Personen mit dem Grafen: Georges (Marest), zweiter Schreiber seines Pariser Notars Crottat sowie Joseph Bridau, ein junger Künstler, der von einem Lehrlingskollegen und Spaßvogel Léon Didas y Lora, genannt Treffbube (Mistigris), begleitet wird. Letzter im Bunde ist Père Léger, ein reicher Landwirt aus Val-d’Oise, der das Grundstück gepachtet hat, das der Graf von Margueron erwerben will. Léger hofft selbst das Grundstück zu kaufen, um es dann Stück für Stück an den Graf mit einem hohen Profit zu veräußern.

Da sich die Personen untereinander nicht kennen, gaukeln sie sich im folgenden aus Eitelkeit falsche Identitäten vor und prahlen mit ihren Beziehungen.  Um sich auf Kosten seiner Reisegenossen zu amüsieren, gibt der wortgewandte und gefallsüchtige Georges seine Abenteuer und Orienterfahrungen zum Besten. Er behauptet, als junger, adliger Oberst Enkel des berühmten Georg des Schwarzen zu sein. Die Mitreisenden sind beeindruckt von seinen Abenteuern. Graf Sérizy erkennt aber in einer Rastpause die wahre Identität des Mannes anhand der geheim entwendeten Papiere. Der Graf bringt seine wahre Identität zum Schein mit das Spiel ein. Um Georges zu übertreffen, gibt sich der junge Maler Bridau als der berühmte Künstler Heinrich Schinner aus. Interessant wird es, als auch Oscar nicht zurückstecken will und vorgibt, ein guter Freund des Grafen von Sérizy und seinem Sohn zu sein. Im Verlauf seiner Prahlerei plaudert er einige private und peinliche Details aus dem Eheleben des Grafen aus, die er nur von seinen Pateneltern, den Moreau’s, erfahren haben kann. Auf der Reise bekommt der Graf aus einem Gespräch auch das Vorhaben von Père Léger mit, ihm Teile des zu erwerbenden Grundstücks zu einem überteuerten Preis zu verkaufen.

Der Graf ist tief gekränkt. Als er in Presles eintrifft, hat er nichts Eiligeres zu tun als Moreau zu entlassen; nicht so sehr deshalb, weil dieser mit Léger gemeinsame Sache gemacht hat, sondern, weil er offensichtlich private Details aus seinem und dem Leben seiner Frau seinem Paten Oscar anvertraut hat. Alle anderen Fahrgästen vergibt er ihre Aufschneidereien und lädt sie zum Abendessen ein. Der Graf erwirbt Les Molineaux am Ankunftstag zu seinen Konditionen. Die Indiskretionen Oscars führen dazu, dass Oscar zu seiner Mutter nach Paris zurückkehren muss.

Das nachfolgende Geschehen wird sehr viel kürzer und auf sehr viel weniger Seiten abgehandelt.
  
Auf Vermittlung seiner Mutter wird Oscar durch seinen alten Onkel Jean-Jérome-Séverin Cardot in seiner juristischen Ausbildung unterstützt. Gleichzeitig wird er mit Hilfe seines Patenonkels Moreau, der sein in Presles erworbenes Vermögen als Gütermakler nutzt, als Lehrling in die Kanzlei von Desroches vermittelt. Dort wird er vom Bürovorsteher Godeschal unter seine Fittiche genommen. Er ist fleißig und steigt nach zwei Jahren zum Schreiber auf. Er erneuert seine schicksalhafte Bekanntschaft mit Georges Marest, der nach den Vorfällen mit dem Grafen die Kanzlei wechseln musste. Oscar kann aber weiterhin seine Eitelkeiten und Ausschweifungen nicht im Zaum halten. So bringt ihn trotz Ermahnungen von Godeschal und seiner Mutter eine weitere Indiskretion im Jahre 1825 um die erreichten Früchte. Im Haus der Tänzerin Florentine Cabirolle, die er über Georges kennenlernt und die von seinem wohlhabenden Onkel Cardot ausgehalten wird, verspielt Oscar am Spieltisch 500 Francs, Geld, dass ihm zur Begleichung einer Rechtssache von seinem Chef Desroches anvertraut wurde. Er wird am nächsten Morgen völlig betrunken von seinem Onkel auf einem Sofa schlafend überrascht. Obgleich Cardot nach Oscars Flehen noch einmal Gnade vor Recht walten lässt und ihm die Spielschulden auslegt und auch Godeschal das Vergehen zu vertuschen versucht, erfährt sein Chef Desroches von der Verfehlung. Dieser kennt kein Pardon. Kurz vor seiner Dissertation ist Oscar gezwungen, zum zweiten Mal klein beizugeben und seine Jurakarriere an den Nagel zu hängen. Alternativ bleibt nur das Militär.

Auf den letzten Seiten behandelt Balzac Oscar‘s Militärkarriere. Er wird auf Empfehlung von Graf de Sérizy in das Kavallerieregiment des Herzogs de Maufrigneuse und des Vicomtes de Sérizy, des Sohns des Grafen, aufgenommen. Mit diesem behauptete in der Kutsche vor Jahren Oscar befreundet zu sein. Seine Führung ist vortrefflich. Ehrgeizig wie er ist, stellt er sich in den folgenden Jahren auf die richtige Seite und wird 1830 zum Unterleutnant und 1832 zum Rittmeister befördert. Eine beachtenswerte Tat im Algerieneinsatz macht ihn dann endgültig berühmt. Er rettet den tödlich verwundeten Vicomte de Sérizy vom Schlachtfeld, wobei er dabei selbst im Kampfgetümmel seinen linken Arm verliert. Er wird darauf zum Oberstleutnant befördert. Obgleich der Sohn nach aufopfernder Pflege durch Oscar kurz darauf verstirbt, zeigt sich der Vater und Graf dankbar und verzeiht Oscar sein früheres Verhalten. Er erhält den Posten eines Steuereinnehmers in Beaumont-sur-Oise.

Das Buch schließt im Jahre 1838 mit Bezug auf den Beginn. Der 34-jährige Oscar nimmt zusammen mit seiner verwitweten Mutter wieder die Postkutsche des Unternehmers Pierrotin. Sie finden sich unerkannt wieder in Gesellschaft der Zeugen und Mitwisser seiner damaligen Indiskretionen. Georges hat durch seine Ausschweifungen sein Vermögen verloren und verdingt sich als armer Versicherungsmakler; Père Léger ist Millionär und verheiratet mit der Tochter des neuen Verwalters von Presles M. de Reybert; Joseph Bridau ist nun ein gefeierter Maler und wird in Kürze Léger’s Enkelin heiraten; und Moreau, dessen Tochter sich ebenfalls in der Kutsche befindet, bekleidet hohe politische Ämter. Als Marest anfängt, über die Moreaus herzuziehen, gibt sich Oscar zu erkennen, weist ihn auf die Gefahren hin und erinnert an ihr damaliges Zusammentreffen.

Im Jahre 1838 verlobt sich Oscar mit Georgette Pierrotin, der Tochter des Fuhrunternehmers und hat sich die Hörner abgestoßen.

„Oscar ist ein freundlicher Durchschnittsmensch, ohne Ansprüche und bescheiden, und hält, wie seine Regierung, stets die goldene Mitte. Er erregt weder Neid noch Verachtung. Er ist, kurz gesagt, der moderne Bürger“.

Eine fein und detailliert ausgearbeitete Geschichte mit einer bunten Mischung der für Balzac so typischen Charaktere zu den Fallstricken von Eitelkeit und Unbekümmertheit. Oscar der Hauptprotagonist genießt in dem dichten Geflecht der Beziehungen trotz seiner Charaktereigenschaften das Wohlwollen einiger seiner Verwandten und Bekannten. Hierdurch wird der zwar fleißige, aber den Verlockungen des Lebens zugeneigte junge Mann nach jedem Scheitern wieder auf seine Füße gestellt. Am Ende hat der Lebensbeginn ihm zugesetzt und er ist von den Eskapaden gezeichnet. Er hat aber auch seine Lektionen gelernt. Eine moderne Adaptation des Stoffes mit dem Handlungsort ICE anstatt Postkutsche drängt sich praktisch auf; so universell ist das Thema ... so wie Balzac.

Ich bin bei Balzac immer wieder erstaunt, wie dicht, komplex, virtuos auf nur 180 Seiten er ein Lebensuniversum in dieser Detailtreue erschaffen konnte. 

Zitate

Oscar war ins letzte Viertel der Übergangsjahre gelangt, wo kleinen Dinge große Freude und großes Leid entspringt, wo man einem Unglücksfall einer lächerlichen Kleidung vorzieht, wo das Selbstgefühl sich nicht an den großen Lebensinteressen, sondern an Nichtigkeiten klammert, an die äußere Aufmachung, an das Verlagen, erwachsen zu wirken. Man wirft sich dann in die Brust, und die Prahlsucht ist um so ungemäßer, als sie sich auf Bedeutungsloses erstreckt; …

„… Gesandter werden Sie nie“, antwortete Georges. „Wenn man in öffentlichen Fahrzeugen reden will, muss man, wie ich, darauf bedacht sein, viel Worte zu machen und nichts zu sagen.“

(180 Seiten)

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