5. Modeste Mignon und die drei Liebhaber (1844)

Szenen aus dem Privatleben

unbekannt - Honoré de Balzac,
Modeste Mignon. Philadelphia:
George Barrie & Son, 1897, Public Domain
Der erste Teil des Romans nimmt sich ein Vorbild an dem im Jahre 1789 uraufgeführten Ballet „La Fille mal gardée“ (Die schlecht behütete Tochter), in dem eine junge Frau trotz Bewachung und Aufsicht sich eigenständig einen Liebhaber zulegt und damit die Absichten ihrer Aufseher unterläuft. Diese Situations-beschreibung wird auch von Balzac selbst als Bild im Text verwendet.

Modeste Mignon ist eine junge Frau aus der Provinz mit romantischem Temperament. Ihr Vater Charles Mignon, ein angesehener Geschäftsmann in Le Harve, wird plötzlich vom Konkurs bedroht und hat das Land verlassen. Er hat seinem alten Freund aus Militärtagen Anne Dumay vorher das Versprechen abgenommen dafür zu sorgen, dass sich seine einzige ihm verbliebende Tochter in seiner Abwesenheit keinen Liebhaber zulegt. Kurz nach seiner Abfahrt erblindet seine Frau. Zum Leidwesen aller verstirbt auch noch seine älteste 22-jährige Tochter Bettina-Caroline Mignon nach einer unglückseligen Beziehung. Das Herz der einzig noch verbliebenen Tochter Modeste entflammt dennoch heimlich und leidenschaftlich für den berühmten Pariser Poeten Melchior de Canalis und sein Werk. Dieser Umstand wird von Balzac erst zu einem Zeitpunkt in die Handlung eingeführt, als er bereits das Beziehungsgeflecht aller Beteiligten herausgearbeitet hat. Insbesondere die zu Beginn des Romans angedeutete Verschwörung der Latournelles, um Modeste aus der Reserve zu locken, gibt dem Leser Rätsel auf, wird dann aber schnell mit einem „Aha!“ vom Leser quittiert. Man merkt hier bereits, dass es sich auch im Plot-Aufbau bereits um ein gereiftes Spätwerk von Balzac handelt. 

Der Brief, den Modeste Canalis schreibt, trifft bei dem Angebeteten nicht auf Gegenliebe. Canalis, ein ehrgeiziger Egoist, beauftragt seinen Sekretär Ernest de Brière sich der Sache anzunehmen. Ernest beginnt daraufhin im Namen von Canalis einen umfangreichen Briefwechsel mit Modeste, der beide füreinander einnimmt. Er reist daraufhin nach Ingouville, der Heimatstadt der Mignons, um sich Modeste am Sonntag in der Kirche als Canalis zu zeigen. Der gerissene Zwerg Butscha, Sekretär der den Mignons verbundenen Latournelles, fühlt sich Modeste wie ein mittelalterlicher Ritter verbunden. Er scheint der einzige, der die Bodenhaftung nicht verliert und klar die Verhältnisse durchschaut; so auch die Geheimniskrämerei von Modeste, der er seine Hilfsbereitschaft anbietet. Er ist entschlossen, die Identität des Mannes aufzudecken. Die Handlung gewinnt an Fahrt, als der Vater Charles Mignon als wohlhabender Mann aus dem Opiumhandel aus dem vierjährigen Exil heimkehrt. Modeste ist nicht länger die vermeintlich arme Frau aus der Provinz, sondern die reiche Erbin von sechs Millionen Francs. Sich ihrer gegenseitigen Liebe versichernd, legt Ernest darauf seine wahre Identität offen. Modeste fühlt sich betrogen und tief verletzt. Sie verstößt ihn. Seine Familie deckt den Schwindel ebenfalls auf. Nachdem Ernest bei ihm vorgesprochen hat, beweist Modeste Vater Charles ungewöhnliche Größe und lässt seiner Tochter die Wahl. Er lädt Ernest und Canalis zu sich nach Hause ein. Mittlerweile hat nämlich auch Canalis den wahren „Wert“ von Modeste erkannt und beginnt sein Ansehen und seine Erfahrung (seine Geliebte ist die zwanzig Jahre ältere Herzogin Chaulieu) intrigant mit ins Spiel zu bringen, um Modeste für sich zu interessieren. 


[Canalis] … glaubte, …, er trage sein eigenes Publikum immer mit sich herum.

 Aber sein Sekretär ist jetzt nicht mehr sein einziger Rivale: Auch der ortsansässige, mit allen Ehren dekorierte, aber bedürftige Herzog d’Hérouville wirft seinen Hut in den Ring.

Dieser zweite Teil fußt ebenfalls auf einem traditionellen Handlungsstrang, dem der rivalisierenden Freier („The Rival Suitors“). Ernest, Canalis und Herzog d’Hérouville bewerben sich um die Hand von Modeste. Noch immer fühlt Modeste sich durch die Täuschung von Ernest verletzt. Sie ist deshalb entschlossen, Ernest zu demütigen und sich zwischen den leidenschaftlichen Avancen des Poeten und der Aussicht auf den Titel einer Herzogin zu entscheiden.

 „Modeste ist in deinen Ruhm verliebt und von mir hinters Licht geführt worden, sie steht ganz einfach zwischen Dichtung und Wahrheit. Ich habe das Pech, die Wahrheit zu sein.“ (Ernest de Brière zu Canalis) 

Alleinig der Zwerg Butscha erkennt, dass nur Ernest Modeste wirklich liebt. Indem er Zweifel über das wirkliche Vermögen der Familie Mignon säet, entlarvt er die wahren Absichten von Canalis, der befürchtet als armer Edelmann zu enden und seine Beschützerin und Geliebte Herzogin Chaulieu zu verlieren. Gleichzeitig setzt sich Butscha für Ernest ein und überzeugt Modeste von dessen wahren Gefühlen. Auf einer Jagdgesellschaft des Hochadels gibt Modeste auch dem Herzog einen Korb, versichert sich aber seiner Freundschaft. Dank der Raffinesse von Butscha und dem richtigen Gespür von Modestes‘ Vater wählt Modeste am Ende Ernest als Mann.
 Ein klassischer Plot (mit allen seinen Varianten), der in vielen historischen und aktuellen Büchern und Filmen verwendet wird. Balzac macht daraus ein Sittengemälde mit Kritik an der Heiratspraxis seiner Zeit. Ich kann mir diesen Roman auch sehr gut als Schauspiel im Theater vorstellen. Ein intrigant romantisches Verwirrspiel mit Balzac-bekannter detailgetreuer Zeichnung der Charaktere.

Weitere Zitate

[Sie, Modeste] hatte … alles vermutet, nur nicht diesen kalten Wassertropfen, der auf die wallenden Dampfgebilde  der Einbildungskraft gefallen war und sie aufgelöst hatte, wie Blausäure das Leben auflöst ... !

„Ach“, antwortete Butscha, „was Sie für meinen Buckel halten, ist das Futteral meiner Flügel.“

Er ist ein guter Wein, aber so fest verkorkt, dass man dabei seine Korkenzieher zerbricht !“

Er kommt mir vor, …, wie ein zierlich gearbeitetes Schmuckstück, das man öfter zeigt, als dass man es trägt, und das in der Watte liegenbleibt.

Ach, weder Männer noch Frauen haben Freunde, die sie auf den Augenblick hinweisen, da das Parfüm ihrer Bescheidenheit ranzig, da die Zärtlichkeit ihres Blicks zum herkömmlichen Theater wird, da der Ausdruck ihres Gesichts sich in Ziererei wandelt und da die Kunststücke ihres Geistes dessen verrostetes Gestell durchblicken lassen.
 
(283 Seiten)




1 Kommentar:

  1. Herzlichen Dank für die Orientierung. Habe mir die 12-bändige Dünndruck Ausgabe gekauft- und fange vorn an. Werde hier öfter vorbei schauen. LG Jürgen aus Berlin

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