19. Béatrix (1839)

Szenen aus dem Privatleben

Titelseite von “Béatrix”. Philadelphia:
George Barrie & Son, 1897.
Die Szene zeigt Béatrix de Rochefide
und Calyste du Guénic
Dieser klug durchkomponierte Roman gliedert sich in seiner Endfassung in drei Teile. Während die ersten beiden Teile aus dem Jahre 1839 stammen, wurde der letzte Teil erst fünf Jahre später fertiggestellt und 1845 von Balzac zusammen mit den beiden ersten Teilen in die „Menschliche Komödie“ eingegliedert.

Hauptschauplatz des Romans ist Guérande an der bretonischen Küste mit der zentralen Hauptperson Calyste du Guénic. Bei Calyste handelt es sich um einen ortsansässigen attraktiven jungen Mann von altem bretonischen Adel, der aus der Enge seines aristokratischen Milieus in die Welt der großen Leidenschaften katapultiert wird.

 Im ersten Teil des Romans mit dem Titel „Die Gestalten“ werden ausführlich und nacheinander die Personen eingeführt und aus unterschiedlichen Gesichtswinkeln charakterisiert. Gleichsam werden Land, Gebäude, Einrichtungen und Leute unter die Balzac’sche Lupe genommen. So entsteht nach und nach ein dichtes, plastisches Bild der Bretagne der damaligen Zeit. 

Calyste du Guénic ist unsterblich in die vierzigjährige Félicité des Touches verliebt, die sich als Schriftstellerin unter dem Künstlernamen Camille Maupin in der Öffentlichkeit Ruhm erworben hat, ansonsten aber durch ihre unabhängige und unkonventionelle Lebensweise Aufsehen erregt. Félicité besitzt in der Nähe des Elternhauses von Calyste ein eigenes Landhaus, in dem sie mit Freunden ein intellektuelles und künstlerisches Leben führt. Calyste ist fasziniert von ihrer Person und verkehrt als regelmäßiger Gast in ihrem Haus. Obgleich sie Calyste sehr zugetan ist, leugnet Félicité, die schon mehrere Liebesenttäuschungen hinter sich hat, ihre Gefühle und will lediglich auf freundschaftlicher Ebene mit ihm verkehren.

In der Folge entflammt Calyste‘s Herz für die attraktive, blonde Freundin von Félicité, die Marquise Béatrix de Rochefide, die Félicité in ihrem Landhaus besucht. Béatrix lebt von ihrem Mann getrennt und steht in einer problematischen Liebesbeziehung zu dem Komponisten und Musiker Gennaro Conti, der ihr die große Welt verheißt, selbst aber auch andere Beziehungen pflegt. Félicité hilft uneigennützig Calyste, indem sie versucht, Béatrix für Calyste zu interessieren. Damit opfert sie gleichzeitig ihre eigenen Ambitionen auf ihn. Zu spät erkennt Félicité, dass die Zuneigung nicht beidseitig ist und ihre Freundin nur aus Selbstgefallen und Eigenliebe mit Calystes naiver und unverfälschter Anbetung spielt.  

So schlägt das Vorhaben fehl und Béatrix reist unerwartet für Calyste mit Conti nach Paris ab. Diese Niederlage erschüttert Calyste zutiefst. Er weist eine Heirat mit der Freundin aus Kindertagen Charlotte de Kergarouet ab, die von seinen Eltern und Verwandten für ihn vorgesehen ist. In der Folge wird er an seiner Seele krank und zieht sich bei seinen Eltern völlig in sein Schneckenhaus zurück.

Allerdings muss er seinen Vater noch auf dem Totenbett versprechen, sich zu verheiraten. Félicité, gebrochen an ihrer unerfüllten Leidenschaft, geht ins Kloster. Sie trägt mit ihrem Vermögen und ihren Häusern Sorge dafür, dass die Familie du Guénic mit Calyste finanziell ausgesorgt haben. Gleichzeitig führt sie Calyste bei ihren entfernten herzöglichen Verwandten de Grandlieu in Paris ein, um dort die Heirat mit der zwanzigjährigen Tochter des Herzogs Sabine de Grandlieu zu vermitteln. Dem Wunsch seines Vaters und dem Bemühen Félicités folgend, heiraten Calyste und Sabine im Jahre 1838 vermeintlich versöhnlich, aber nicht ganz freiwillig. Hiermit endet der zweite Teil des Romans mit dem Titel „Das Drama“.

Hier könnte der Roman für den Leser enden. Aber dabei will es Balzac nicht belassen; so schnell will er die Seele seines Protagonisten Calyste nicht zur Ruhe kommen lassen. Im letzten (nachträglich hinzugefügten) Teil mit dem Titel „Ein Ehebruch durch Rückschau“ überschattet die nicht verwundene Liebe von Calyste zu Béatrix die Ehe mit seiner Ehefrau Sabine.

Dieser letzte Teil beginnt mit Briefen aus der Bretagne, die Sabine an ihre Mutter schreibt, in denen auch immer das Wissen um die verschmähte Liebe und der Seelenzustand ihres Mannes mitschwingt. Sabine tut in ihre Liebe zu Calyste in der Folge alles, um ihn abzulenken, aber auch zu prüfen, wieweit seine Gefühle für Béatrix noch präsent sind. Wie es das Schicksal will, trifft Calyste nach drei Jahren Béatrix zufällig in der Oper wieder. Die alte Liebe lodert wie erwartet wieder auf. Er fängt an, ein Doppelleben zu führen. Béatrix wurde in der Zwischenzeit von ihrem Liebhaber Conti verlassen und lebt unter bescheidenen Verhältnissen in Paris. Béatrix ist zu einer rachsüchtigen, verbitterten und narzisstischen Frau geworden, die es darauf anlegt, die Ehe von Calyste zu zerstören. Sie wird zur „Femme fatale“ für Calyste. Sabine wird zunehmend misstrauisch und stürzt in tiefe Verzweiflung, als sie die Untreue ihres Mannes entdeckt. Auch wenn Mutter und Freundin versuchen, Calystes seelische Verfassung mit Spielschulden zu erklären, um sie damit zu beruhigen, weiß Sabine um die wahre Situation. Sie resigniert nicht, sondern kämpft darum, ihren Ehemann zurück zu gewinnen.
Ihre Herzogin Mutter nimmt sich der Sache, lässt ihre Beziehungen spielen und gewinnt den kundigen, kühnen und gewissenlosen Abenteurer Graf Maxime de Trailles, um am Ende zu erreichen, dass Calyste wieder zu seiner Frau zurückkehrt. Maxime ist durch seine Beziehungen genau der Richtige, um diesen Auftrag zum Erfolg zu führen. Was jetzt folgt, sind Komplotte an zwei Fronten. Einerseits wird durch einen neuen, von Maxime beauftragten Liebhaber (Graf de La Palferine) die Trennung von Béatrix zu Calyste betrieben; andererseits muss der Ehemann von Béatrix, der Marquis de Rochefide, von seiner langjährigen Lebedame Madame Schontz entfremdet werden, um dadurch wieder eine Rückkehr zu seiner Frau zu ermöglichen. Wie Balzac dieses Unternehmen auf wenigen Seiten bewerkstelligt, grenzt an eine Tour de Force in Sachen Berechnung, Leichtgläubigkeit und Vorteilsnahme. Auch wenn das Unterfangen allzu glatt über die Bühne geht, ist dieser Abschnitt ein gutes Beispiel für die alltägliche Manipulation in einem Meer von Beziehungen und Motiven. Am Ende kehrt Calyste reumütig in den Schoß seiner liebenden Frau zurück, während Béatrix und ihr Mann rein aus gesellschaftlichen und finanziellen  Gründen weiter in eine gemeinsame Zukunft investieren.
Dieser Roman von Balzac hat insbesondere dadurch Bedeutung erlangt, dass Balzac in ihm mit der willensstarken, emanzipierten und schönen Dichterin Félicité des Touches die große Zeitgenossin George Sand verewigt hat. Die Liebesbeziehung zwischen Béatrix und Gennaro Conti stand zudem Pate für das Verhältnis der Marie d’Agoult zu Franz Liszt.

"... von einigen Abweichungen abgesehen, ist die Geschichte wahr." (Brief von Balzac an E. Hanska Feb. 1840)

(352 Seiten)

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