18. Honorine (1843)

Szenen aus dem Privatleben

E. Toudouze — Honoré de Balzac,
Honorine. Philadelphia:
George Barrie & Son, 1897
Als Rahmenhandlung führt Balzac Maurice de l'Hostal  ein, der 1836 Generalkonsul Frankreichs in Genua ist. Maurice ist verheiratet mit Onorina Pedrotti, der einzigen Tochter und Erbin eines ansässigen vermögenden Bankiers. Ihn umgibt ein Geheimnis. Trotz ihres Vermögens und ihrer Schönheit hat sich der Konsul offensichtlich schwer getan, Onorina zu heiraten. Bei einem Empfang französischer Gäste (d.h. Mademoiselle des Touches, Claude Vignon und Léon de Lora) und als Beitrag zu ihrer gemeinsamen Diskussion, die die Schuldfrage beim Fehltritt einer Frau zum Thema hat, erzählt Maurice der Gesellschaft nachfolgende Geschichte aus seinem früheren Leben.

Als junger Mann wird Maurice auf Empfehlung seines geistlichen Onkels Sekretär des Grafen Octave, der als Jurist in hohem Staatsdienst steht. Beide finden Gefallen aneinander. Der Graf verbirgt ein Geheimnis. Er strahlt die Melancholie eines erlittenen Unglücks aus und hat sich in die Arbeit geflüchtet. Durch eine Unachtsamkeit von Graf Sérisy bei einem Abendessen entdeckt Maurice, dass sein Dienstherr verheiratet war, aber kurz nach der Heirat überraschend von seiner Frau verlassen wurde. Darauf zieht Graf Octave Maurice ins Vertrauen und erzählt ihm, dass er mit Honorine, der Adoptivtochter seiner Eltern, aufgewachsen ist. Er heiratete sie kurz nach ihrer Volljährigkeit. Unschuldig und unerfahren in Lebensdingen,  wird sie Opfer eines Abenteurers, der sie schwanger nach wenigen Monaten verlässt. Sie zieht sich darauf in Reue und Schande zurück. Kontakt zu ihrem angetrauten Ehemann lehnt sie strikt ab. Octave liebt und verehrt sie aber immer noch abgöttisch und hilft ihr ohne ihr Wissen ihren Lebensunterhalt als selbstständige Blumenkünstlerin zu gestalten. Da er selber keinen Kontakt zu ihr herstellen kann, beauftragt er Maurice, seinen Sekretär, unter falscher Identität das unmittelbar an Honorine's Gartenhaus angrenzende Haus zu beziehen und sich dabei als geistesgestörter Pflanzenzüchter auszugeben. Durch einen Vorwand kommt er in Kontakt mit Honorine und gewinnt ihr Vertrauen. Noch immer verschließt sie sich ihrer Vergangenheit. Durch geschicktes Vorgehen konfrontiert Maurice Honorine aber mit der Wahrheit, ihrer Geschichte und der aufopfernden Liebe ihres Mannes. Wechselseitige Briefe zwischen Octave und ihr bringen Honorine dazu, wieder in ein gemeinsames Leben einzuwilligen, allerdings ohne dass Honorine’s Herz Ja sagt. Zu diesem Zeitpunkt verlässt Maurice auf eigenen Wunsch den Grafen, um seine Konsul-Laufbahn zu starten. Honorine stirbt zwei Jahre später an ihrer seelischen Zerrissenheit.

Hier endet die Erzählung von Maurice an die Gesellschaft. Auf Nachfragen gibt Maurice zu, dass Graf Octave um seinen Beitrag zu Honorine’s Tod wusste. Octave macht sich, fünfundvierzigjährig und frühzeitig ergraut zu seiner letzten Reise nach Italien auf, nicht bevor er Maurice zum Vormund für das gemeinsame Kind bestellt hat. Maurice hat dieses Erlebnis offensichtlich so beeindruckt, dass er lange Jahre einer Heirat ablehnend gegenüberstand, vielleicht aber auch, weil er selbst bei Honorine einen Blick in seine eigene Seele geworfen hat....

Neben der gesellschaftlichen, juristischen und religiösen Sichtweise ergänzt Balzac in dieser Geschichte die Diskussion um den Ehebruch der Frau in seiner Zeit um die des Herzens und der wahren Liebe, die auch einer Frau zugestanden werden muss. Er bedient sich dabei der Verschachtelung, der Rahmenhandlung sowie der Geschichte in der Geschichte. Eine reife und klug konstruierte Erzählung aus den späteren Werken der Menschlichen Komödie, die Balzac angeblich in nur drei Tagen zu Papier gebracht haben will.

"Als ich unwillkürlich Amélie und Honorine verglich, fand ich mehr Zauber bei der schuldigen Frau als bei dem reinen Mädchen. Für Honorine war die Treue keine Pflicht, sondern das Schicksal des Herzens, während Amélie mit heiterer Miene feierlicher Gelübde  aussprechen würde, deren Tragweite sie so wenig kannte wie die Verpflichtungen, die sie einschlossen."

"Aber vollenden die Pyramiden sich nicht in einer Spitze, auf der sich ein Vogel niederlässt ...."

"Es ist da kein Leben mehr, wo keine Liebe mehr ist."

"Müsste man im Interesse der menschlichen Natur nicht erforschen, welches die unwiderstehliche Macht ist, die uns um des flüchtigsten aller Genüsse Willen trotz unserer Vernunft ein göttliches Geschöpf opfern lässt .... ?"

(85 Seiten)

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